Neue Ansatzpunkte in der Diabetes-Ernährungs­therapie: Betonte Eiweiß­aufnahme zur Förderung des Sättigungs­gefühls und geringere Aufnahme von Kohlen­hydraten durch Ersatz mit guten Fetten.

Hätten Sie vor mehr als hundert Jahren Diabetes bekommen, egal ob Typ 1 oder 2, wären sie höchstwahr­scheinlich mit einer sehr kohlen­hydratarmen Kost behandelt worden.1 Dann wurde das Insulin entdeckt und ermöglichte ein längeres Überleben für Menschen mit absolutem Insulinmangel (Typ 1). Jedoch trat die Ernährungs­therapie für viele Jahre mehr oder weniger in den Hintergrund. Dabei hat sich der Diabetes und dessen Therapie in dieser Zeit enorm verändert: die Diabetes-Häufigkeit steigt seit Jahren an, über 90 % der Diabetiker haben den sogenannten Altersdiabetes (Typ 2) und neben Insulin gibt es eine ganze Reihe an neuen Medikamenten auf dem Markt, die unterstützend in der Behandlung des Typ-2 ihre Anwendung finden. 

Nur die Ernährungstherapie fristet immer noch ein Schattendasein, obwohl sich auch hier die Behandlungskonzepte gerade im letzten Jahrzehnt enorm weiterentwickelt haben. Man kann davon sprechen, dass sich ein Paradigmen­wechsel ankündigt bzw. vollzogen hat.2-3 Lange Jahre wurde bei Diabetes Typ 2 trotz bekannter Auswirkungen auf den Blutzucker eine kohlenhydrat­betonte Kost empfohlen, um den Anteil an Eiweiß und Fett in der Nahrung nicht zu stark zu erhöhen.2 Das sollte einer Verschlechterung der Nierenfunktion und der Blutfettwerte vorbeugen. 

Tabelle mit Diabetesfällen nach Altersgruppen. Steigende Fallzahlen mit steigendem Alter.

Normalisierung des Langzeit­zuckers durch Lebensstil­änderung und Gewichtsverlust

Dabei zeigen eine ganze Reihe an methodisch gut durchgeführten Studien, dass es durch eine kohlenhydrat­reduzierte Kost zu keiner Erhöhung bei kardiovaskulären und renalen Risikofaktoren kommt.2,4 Eher der gegenteilige Effekt ist der Fall. Verschiedene kohlenhydratarme bzw. mediterrane Ernährungsweisen, häufig zunächst in Kombination mit einer vorgeschalteten kalorienreduzierten Diät (z. B. über eine Formuladiät), zeigen einen erstaunlichen Rückzug (Fachausdruck: Remission) des Alterszuckers.2-3 Der Erfolg ist dabei maßgeblich von der Höhe der Gewichtsabnahme, dem langfristigen Erhalt der Gewichtsabnahme und der Erkrankungsdauer abhängig. 

Je mehr Gewicht man langfristig abnehmen kann und je kürzer die Diabetesdiagnose zurückliegt, desto höher sind die Chancen seinen Diabetes auch ohne Medikamente erfolgreich behandeln zu können. In Zahlen ausgedrückt bedeutet dies, dass etwa 70-80 % der Diabetiker einen Langzeitzuckerwert (HbA1c) unter 6,5 % erreichen könnten, wenn Sie langfristig durch eine Lebens­stiländerung mehr als 15 kg abnehmen und ihre Diagnose noch nicht länger als 6 Jahre zurückliegt.2 Kein leichtes Ziel, aber ein Ziel ohne Nebenwirkungen. Und die Ernährungs­studien zeigen noch mehr: Auch wer es nicht schafft, Gewicht zu verlieren, kann durch eine Kohlenhydrat­reduzierung bereits eine bessere Blutzuckerkontrolle erreichen.2 Auch präventiv senkt eine Lebensstiländerung das Diabetesrisiko deutlich.5 Natürlich sind diese Erfolge nicht durch eine „kurze“ Ernährungsschulung zu erreichen.

Das aktuelle Ernährungs­verhalten muss ausführlich analysiert werden, Schwachstellen in der Ernährung bzw. Defizite bei der Nahrungsaufnahme identifiziert werden und individuell mit dem Patienten besprochen werden. Dabei dürfen sich die Menschen nicht alleingelassen fühlen und müssen langfristig betreut und gecoacht werden. Leider wird diese aufwendige Therapie häufig nicht im vollen Umfang von den Krankenkassen bezahlt. Dabei würde sich der Aufwand lohnen. Jeder Diabetiker weniger entlastet das Gesundheitssystem jährlich um mehrere Tausend Euro.6

Vorzüge der neuen Ernährungskonzepte

Gegenüber der klassischen fettarmen, kohlenhydratbetonten Ernährungsweise ergeben sich einige Vorteile:2,3

  • Gemüse, Ballaststoffe und Eiweiß führen zu einer guten Sättigung, was die Zufriedenheit und langfristige Durchhalten erhöht sowie Hungerattacken vermeidet
  • weniger Kohlenhydrate führen zu einem geringeren Blutzuckeranstieg, entlasten die Bauchspeicheldrüse und setzen weniger Insulin frei, was eine Gewichtsabnahme unterstützt
  • kardiovaskuläre Risikofaktoren (Bluthochdruck, Blutfettwerte, Entzündungswerte) werden zusätzlich positiv beeinflusst
  • Verbesserung des Stoffwechsels von Leber und Bauchspeicheldrüse

Die amerikanische Diabetes-Gesellschaft (engl. American Diabetes Association) und die europäische Gesellschaft zur Unterstützung der Diabetesforschung (engl. European Association for the Study of Diabetes) haben in ihrer gemeinsamen Leitlinie bereits hervorgehoben, dass eine verminderte Kohlenhydrat­aufnahme eine gute Möglichkeit zur ernährungs­therapeutischen Behandlung des Diabetes ist.7 Die nationale Versorgungs­leitlinie zur Ernährungs­therapie bei Typ-2-Diabetes wird aktuell überarbeitet und die neuen Empfehlungen werden mit Spannung erwartet.

Viele Menschen mit Diabetes könnten durch eine Lebensstiländerung teils oder ganz auf Medikamente verzichten.
Eine Lebensstiländerung kann Medikamente ersetzen. Bild: ©pixabay|jarmoluk; silviarita

Aktuelle Behandlungs­konzepte aber keine Ernährungs­therapie?!

Aber liegt das Problem der Diabetes-Therapie nicht vielmehr darin begründet, dass eine Ernährungstherapie noch viel zu selten ihre Anwendung findet? Schätzungen der Deutschen Diabetes Stiftung könnten etwa 50 % der Menschen mit Typ-2 Diabetes über eine Lebensstiländerung auf Medikamente verzichten bzw. diese deutlich reduzieren.8 Aber laut aktuellen Zahlen des Diabetes-Surveillance 2019 versuchen nur 9 % der Diabetiker ihre Erkrankung über eine Lebensstiländerung in den Griff zu bekommen.9 Diese Zahlen sind seit 1998 außerdem rückläufig, dort haben es noch 15 % der Erkrankten probiert!  

Das heißt, die neuen Erkenntnisse in der Ernährungstherapie des Diabetes müssen erstmal erfolgreich an den Patienten gebracht werden. Der Gesetzgeber und die Krankenkassen sind gefordert Aufklärung und vor allem auch Prävention verstärkt zu betreiben und nicht durch die gegenwärtige Pandemie den Fokus darauf zu verlieren. Ernährungsfachkräfte sollten viel enger, häufiger und länger in die Diabetes-Therapie einbezogen und von den Kassen bezahlt werden. Patient, Arzt und Therapeut sollten ein interdisziplinäres Team bilden, stattdessen wird der Arzt für die nicht-medikamentöse Therapie kaum bezahlt, in der Ernährungstherapie kommen die Patienten daher nicht an und diese fühlen sich alleingelassen. Es geht sogar so weit, dass viele Zucker-Erkrankte die Möglichkeit einer Remission der Erkrankung ohne Medikamente gar nicht realisieren, weil sie von niemanden im Laufe ihrer Behandlung darauf aufmerksam gemacht worden sind.10

Erfolgversprechende Ernährungstherapien sind auf dem Vormarsch. Diese müssen nur noch in ein Gesundheitssystem integriert werden, das auch an der Wiederherstellung der Gesundheit ihrer Beitragszahler interessiert ist. In den nächsten Jahren wartet noch sehr viel Arbeit auf Politiker, Krankenkassen und Ärzte, wenn sie das Kollabieren des Systems noch verhindern möchten, was bei steigenden Diabetes-Zahlen, schlichter Symptombehandlung und ungesunder Lebenswelt unweigerlich droht.

Liebe Menschen mit Diabetes, bitte bleiben Sie dran, geben Sie sich nicht mit einer ausschließlich medikamentösen Therapie zufrieden, sondern suchen Sie sich aktiv Informationen, Ansprechpartner oder Therapeuten, um ihre Gesundheit wieder in ihre eigenen Hände zu legen. Denn Eigeninitiative und -verantwortung kann ihnen keiner nehmen oder verweigern.

Dr. Claudia Miersch, Ernährungs­wissenschaftlerin

Beitrag vom 30.08.2021; letzte Aktualisierung am 03.10.2021

Quellen (letzter Abruf August 2021): 
1) https://europepmc.org/article/med/16489278
2) https://www.springermedizin.de/stoffwechselkrankheiten-und-ernaehrung/ernaehrung/paradigmenwechsel-in-den-empfehlungen-zur-ernaehrung-bei-typ-2-d/18859856
3) https://www.aerzteblatt.de/archiv/207340/Ernaehrungstherapie-bei-Diabetes-Neue-Evidenzen-befluegeln-die-Remissionstherapie
4) https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/31305905/
5) https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/daz-az/2019/daz-26-2019/wenn-zucker-droht
6) Deutscher Gesundheitsbericht Diabetes 2021, Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) und diabetesDE – Deutsche Diabetes-Hilfe, Seite 258, abrufbar über 20201107_Gesundheitsbericht2021.pdf (deutsche-diabetes-gesellschaft.de)
7) https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/30291106/
8) Hans Lauber (2012) Zucker zähmen. Kirchheim-Verlag
9) Robert-Koch-Institut (2019): Bericht der nationalen Diabetes-Surveillance. Abrufbar über https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Studien/Diabetes_Surveillance/Diabetesbericht.html#:~:text=Der%20Diabetesbericht%20%22Diabetes%20in%20Deutschland,%C3%9Cberblick%20zum%20Diabetesgeschehen%20in%20Deutschland.
10) Dr. med. Rainer Limpinsel (2020) Diabetes – das Anti-Insulin Prinzip. TRIAS-Verlag.