Das lange konzentrierte Arbeiten in einer Prüfungssituation und die nervliche Anspannung davor können das Diabetesmanagement durcheinanderbringen. Bei Typ-1-Diabetes sind dann möglicherweise die Kontrolle des Blutzuckers und zusätzliche Pausen fürs Essen und bei zu hohen Werten, auch eine Insulingabe (Bolus) notwendig. Das kann in besonderen Prüfungssituationen zum Problem werden.
Muss der Prüfling für die Versorgung seines Diabetes den Raum verlassen und dafür alle Prüfungsunterlagen schließen und abgegeben, kann wertvolle Zeit verloren gehen. In diesem Fall und in Prüfsituationen, wo alle Geräte mit Display abgegeben werden müssen, kann es ratsam sein, einen Nachteilsausgleich zu beantragen.
Die Frage ist: Reicht Diabetes Typ 1 als Begründung für eine Zeitverlängerung oder einen anderen Nachteilsausgleich bei Leistungsnachweisen in Schule, Ausbildung und Studium?
Für einen Nachteilsausgleich in Klassenarbeiten, Klausuren und Prüfungen bei Menschen mit Typ-1-Diabetes müssen die folgenden Bedingungen vorliegen:
- Sie müssen eine ärztlich attestierte Erkrankung oder Behinderung aufweisen, die bereits über einen längeren Zeitraum besteht.
- Die der Behinderung zugrundeliegende Erkrankung muss Sie in Schule und Studium nachhaltig beeinträchtigen.
Grundlage für Nachteilsausgleiche sind die Regelungen der UN-Behindertenrechtkonvention und die Gesetze zur Erlangung einer Schwerbehinderteneigenschaft nach dem Sozialgesetzbuch.
Jan Twachtmann, Fachanwalt für Medizinrecht und selbst Typ-1er, plädiert dafür, nicht auf den Nachteilsausgleich zu bauen, sondern motiviert und gut vorbereitet die Prüfungssituation zu meistern.
Er sagt: „Gerade mit der heutigen Technik braucht man bei Typ-1-Diabetes in aller Regel keine Nachteilsausgleiche und sie helfen einem in der Prüfung auch nicht weiter.“
Twachtmann rät zu mehr Selbstbewusstsein und Vertrauen in die eigene Leistung. Oft sind es nämlich die Eltern, die den Kindern die Notwendigkeit eines Nachteilsausgleichs einreden.
Jan Twachtmann: „Wenn du später im Beruf schlechte Arbeit ablieferst, kannst du bei deinem Arbeitgeber ja auch keinen Nachteilsausgleich beantragen.“
Sandra Neumann, Mutter von zwei Kindern mit Typ-1-Diabetes, stellt persönlich fest: Gerade beim Thema Nachteilsausgleich rennen wir Dia-Eltern und - Berater*innen in den Schulen mitunter die Köpfe ein. Warum? Weil es immer noch heißt, "Ihr Kind kann und macht doch alles, warum braucht es eine extra Vergünstigung"?!? Weil es das eben nicht immer kann. Und weil es dafür eine besondere Unterstützung braucht....Weil es - und darüber gibt es genug Studien - in einer Unter- oder Überzuckerung nicht die gleichen Leistungen in einer Klassenarbeit o.ä. bringt (bringen kann!!!) wie ein gesundes Kind...
Instagram-Post zucker.im.kopf am 27.7.2021
In der Schule
Für Schüler gibt es nur in wenigen Bundesländern einen geregelten Anspruch auf Nachteilsausgleiche aufgrund eines krankheitsbedingten Mehrbedarfs, zum Beispiel bei Typ-1-Diabetes. Es liegt in der Entscheidungshoheit der Schule, zumeist der Lehrerkonferenz, ob und welche Ausgleiche gewährt werden.
Die Schule kann beispielsweise eine zeitliche Zugabe bei Klassenarbeiten zusagen. Sofern dies aus organisatorischen Gründen nicht möglich ist (zum Beispiel wegen fehlender Aufsichtspersonen), kann die Schule alternative Formen des Nachteilsausgleichs anbieten. Das wären die Anpassung des Bewertungsschlüssels, die Streichung einer Aufgabe oder eine abweichende Gewichtung einzelner Fragen.
Dennis Riehle empfiehlt den Eltern, mit Klassen-, Vertrauenslehrer oder Schulsozialarbeiter ins Gespräch zu kommen und nach einer individuellen Lösung zu suchen. Selbstverständlich ist auch ein formloser Antrag an Schulleitung und/oder Fachlehrer möglich. Sie können hierbei auf § 126 SGB IX Abs. 1 verweisen, der als Begründung für Nachteilsausgleiche in der Schule gilt.
Regelungen oder Empfehlungen über Nachteilsausgleiche an Schulen finden sich in den Schulgesetzen von Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Sachsen-Anhalt.
UNI und Hochschule
Nachteilsausgleiche können sowohl für die Organisation und Durchführung des Studiums beantragt werden, als auch für Prüfungen und Leistungsnachweise. Sie werden nach den Hochschulgesetzen der einzelnen Bundesländern gewährt, sie sind in den Prüfungsordnungen der Hochschulen und Universitäten geregelt. Es ist also wichtig, sich vorher zu informieren.
Vorgeschriebener Nachteilsausgleich
Bei bestimmten Prüfungen (z.B. Staatsexamen) kann die Beantragung eines Nachteilsausgleichs für die Mitnahme technischer Geräte (Pumpe, Sensor, Messgerät) zwingend erforderlich sein. Einige Hochschulen verlangen auch, dass die Geprüften für das Diabetesmanagement in einen separaten Raum gehen. Dafür ist dann ebenfalls ein Nachteilsausgleich vorgeschrieben.
Nachteilsausgleich beantragen
Für den Antrag auf Nachteilsausgleich bei einer Prüfung können Schwerbehindertenausweise oder der Nachweis einer Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen herangezogen werden. Eine beglaubigte gesundheitliche Beeinträchtigung oder amtlich festgestellte Behinderung allein begründet noch keinen Anspruch auf Nachteilsausgleich. Es kommt entscheidend darauf an, wie sich die Beeinträchtigung oder Behinderung im Studium auswirkt. Der behandelnde Arzt kann attestieren, welche Funktionsbeeinträchtigungen Sie mit Ihrem Typ-1-Diabetes bei der Erbringung einer Prüfungsleistung haben.
Eigene Stellungnahme
Zudem sollten Sie mit einer eigenen Stellungnahme den Nachteilsausgleich begründen. Das gelingt am ehesten, wenn Sie zu Ihrer Erkrankung stehen. Sie sollten nachvollziehbar erklären, weshalb Sie aufgrund Ihres Typ-1-Diabetes oder von Begleiterkrankungen, Prüfungen oder Klausuren nicht im vorgeschriebenen Rahmen erbringen können.
Das Prüfungsamt entscheidet
Die Prüfungsämter sowie die Prüferinnen und Prüfer müssen feststellen, ob ein Anspruch auf Nachteilsausgleich besteht. Sie sind dafür verantwortlich, dass die beantragten Nachteilsausgleiche im konkreten Fall erforderlich, geeignet und angemessen sind, um chancengleiche Prüfungsbedingungen zu schaffen.
Eine Zeitverlängerung soll auch tatsächlich für das Diabetesmanagement oder zusätzliche Pausen beansprucht werden – und nicht als zusätzliche Arbeitszeit.
Nachteile gut begründen
Sollte der Nachteilsausgleich ausschließlich mit dem Typ-1-Diabetes begründet sein, ist die Aussicht auf Erfolg begrenzt. Dennis Riehle, ehrenamtlicher Sozialberater bei der DDH-M: „Aus eigener Erfahrung kann ich berichten, dass Diabetes und die daraus resultierenden Funktionsbeeinträchtigungen nicht ausreichen, um ausreichend die Nachteile zu begründen. Ausnahmen sind Diabetes-Formen, die eine häufige Insulingabe einfordern, einen stark schwankenden Blutzuckerspiegel aufweisen, den Tagesablauf beeinflussen oder zusätzliche Medikamentengaben erfordern.“ Auch bereits bestehende Organbeteiligungen, zum Beispiel Neuropathien oder Nephropathien, sind zur Begründung heranzuziehen.
Sie können Ihren Antrag auf Nachteilsausgleiche bei Ihrem Prüfungsamt formlos einreichen. Wesentlich für den Erfolg sind die genannten Nachweise und eigenständigen Erläuterungen, die Sie im Zweifel auch nochmals mit Ihrem behandelnden Hausarzt oder dem Diabetologen abstimmen sollten.
Was tun bei Ablehnung?
Wenn Sie mit Ihrem Antrag noch keine einvernehmliche Lösung erreichen, empfiehlt es sich, den Behindertenbeauftragten der Hochschule oder Universität als Moderator hinzuzuziehen. Dieser kann dann seine Wege nutzen, um auf das Prüfungsamt oder die Hochschulverwaltung einzuwirken. Auch die Hochschulleitung kann in komplizierten Fällen einbezogen werden. Natürlich steht den Studierenden mit Typ-1-Diabetes der Klageweg offen. Die Studentenwerke empfehlen eine juristische Klärung jedoch erst dann, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind.
Autoren: Dennis Riehle / Bolko Bouché (Pressestelle)
Quelle: https://www.studentenwerke.de/de/content/nachteilsausgleich-antragsverfahren-und-nachweise#Unterst%C3%BCtztung
Beitrag vom 14.7.2021; letzte Aktualisierung am 14.7.2021