Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) empfiehlt den Verzehr von fünf Portionen Obst und Gemüse am Tag, um unseren Organismus ausreichend mit Vitaminen, Mineralstoffen und gesundheitsfördernden sekundären Pflanzenstoffen zu versorgen. Diese bioaktiven Substanzen sollten möglichst nicht im Mangel vorliegen, denn zahlreiche wissenschaftliche Studien konnten zeigen: Obst und Gemüse verringern das Risiko für Bluthochdruck, Gefäßerkrankungen, Adipositas, Diabetes und einige Krebserkrankungen. Hierbei spielen weniger einzelne Inhaltsstoffe, sondern vielmehr die Vielfalt an Verbindungen eine Rolle. Und genau da kommt der „Entourage Effekt“ ins Spiel.
Was ist der „Entourage Effekt“?
Bei dem Wort „Entourage“ mögen manche Leute im ersten Moment an die Gefolgschaft eines Königs oder einer Königin bei Hofe denken. Historisch betrachtet, leitet sich der Begriff des Entourage Effekts jedoch nicht von einem französischen Monarchen ab, sondern stammt aus der Cannabis-Forschung.1 Er besagt, dass natürliche Stoffmischungen bzw. verschiedene bioaktive Verbindungen der Hanfpflanze eine höhere biologische Aktivität aufweisen als die isolierte einzelne Substanz, sozusagen eine Wirkungsverstärkung oder Synergie-Wirkung zwischen gesundheitsförderlichen Molekülen.
Der Entourage Effekt lässt sich mit einer Fußballmannschaft vergleichen: Stürmer und Mittelfeldspieler stehen häufig im Rampenlicht, da sie überwiegend die Tore schießen. Aber ohne den Rest der Mannschaft würde es keinen erfolgreichen Fußball geben - jeder Einzelne ist also nie so gut wie das gesamte Team.
Dr. Claudia Miersch
Pflanzen bringen eine Fülle an bioaktiven Stoffen mit sich
Bisher ist der „Entourage Effekt“ hauptsächlich im Zusammenhang mit der Hanfpflanze bekanntgeworden. Mehr und mehr wissenschaftliche Studien lassen vermuten, dass diese Synergie-Effekte auch in Obst, Gemüse und anderen pflanzlichen Lebensmitteln eine Rolle spielen.
Lebensmittel pflanzlichen Ursprungs enthalten über 8000 gesundheitswirksame Substanzen. Vitamine, Mineralstoffe, Spurenelemente, Ballaststoffe und sekundäre Pflanzenstoffe sind dabei nur die größten Substanzgruppen, die ganz viele unterschiedliche Moleküle hinter sich vereinen. Viele dieser Verbindungen sind in ihrer gesundheitlichen Wirkung noch nicht beschrieben.
Diese Moleküle sind so unterschiedlich wie die Lebensmittel, aus denen sie stammen: Sie haben eine unterschiedliche molekulare Größe, Polarität und Löslichkeit. Diese Vielfalt beeinflusst die Bioverfügbarkeit und die Verteilung dieser Stoffe in unserem Körper.
Pillen oder Tabletten mit einzelnen Vitaminen und Mineralstoffen können dieses harmonische Gefüge kaum nachahmen. In zahlreichen Studien wurde daher bei steigendem Verzehr von Obst und Gemüse ein abgesenktes Risiko für verschiedene Zivilisationskrankheiten wie Bluthochdruck, Übergewicht, koronare Herzerkrankungen, Krebserkrankungen und natürlich Diabetes ermittelt. Diese Effekte konnten bei der Gabe von isolierten Wirkstoffen aus Pflanzen in der Regel nicht beobachtet werden.2
Gut zu wissen: Die Forschung hat bereits einige Interaktionen zwischen Vitalstoffen identifiziert. Hier nur ein paar Beispiele:
- Eisen braucht Vitamin C, um optimal aufgenommen zu werden4
- Vitamin A benötigt Zink, damit es im Körper transportiert und in ausreichender Menge gespeichert werden kann5·
- Vitamin D unterstützt die effiziente Nutzung von Calcium im Körper6
- Selen-abhängige Enzyme regenerieren Vitamin E als Radikalfänger7
Trotz einiger eindrucksvoller Ergebnisse steckt die Erforschung von Synergien zwischen einzelnen bioaktiven Substanzen bzw. ganzen Substanz-Cocktails noch in den Kinderschuhen. Die Erkundung dieser Zusammenhänge ist äußerst komplex und nicht so einfach mit einzelnen Experimenten zu entschlüsseln. In den nächsten Jahren werden sicherlich viele neue Erkenntnisse aus diesem Forschungsgebiet dazukommen.
Wirkstoffcocktails aus natürlichen Lebensmitteln bringen noch einen weiteren Vorteil mit sich: Die enthaltenen Verbindungen kommen in physiologischen Mengen vor, an die unser Körper durch den Verzehr dieser Lebensmittel seit Jahrtausenden gewöhnt ist. Künstliche Nahrungsergänzungsmittel enthalten hingegen oft höhere Dosen, die nur selten in humanen Interventionstudien getestet wurden. Dadurch ist das Risiko für eine unnötige Überversorgung von Vitaminen und Mineralstoffen erhöht.3
Unser Körper braucht komplexe Lebensmittel
Unsere Lebensmittel enthalten immer eine Mischung aus verschiedenen gesundheitsfördernden Verbindungen, die ein höheres und ausgewogenes Wirkungsspektrum erzielen als isoliert eingenommene Reinsubstanzen oder Vitamin- und Mineralstoffpräparate. Dazu ein Beispiel aus der Forschung: Ein halber Apfel (etwa 100 g) enthält etwa 6 mg Vitamin C. Dieses Vitamin ist ein natürliches Antioxidans, das freie Radikale abfängt und uns vor oxidativen Stress bewahrt. Die biologische Wirksamkeit dieses Apfels ist jedoch über 260 Mal höher als die reine Menge an 6 mg Vitamin C.8 Alle bioaktiven Substanzen im Apfel machen dieses Lebensmittel zu einer Wunderwaffe gegen Zellstress, Vitamin C alleine kann das nicht schaffen.
Mein persönliches Fazit zu dem Thema lautet:
Wenn wir unserer Gesundheit etwas Gutes tun wollen, sollten wir lieber an das ganze Team der bioaktiven Stoffe statt an den einzelnen Stürmer denken. Über den Verzehr von natürlichen Lebensmitteln versorgen wir unseren Körper mit dem breiten Spektrum an Mikronährstoffen, die sich auch noch in ihrer Wirkung verstärken. Laut Robert-Koch-Institut erreichen nur 15 % der Frauen und 7 % der Männer die Empfehlungen der DGE zum Verzehr von Obst und Gemüse.9 Um den körpereigenen „Entourage Effekt“ zu unterstützen, haben wir definitiv noch Nachholbedarf.
Prof. Dr. Claudia Miersch, Ernährungswissenschaftlerin
Beitrag vom 03.03.2021; letzte Aktualisierung am 26.2.2022
Quellen:
1) https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/9721036/
2) https://www.dge.de/wissenschaft/weitere-publikationen/fachinformationen/gemuese-und-obstprodukte-als-nahrungsergaenzungsmittel/
3) https://academic.oup.com/ajcn/article/78/3/517S/4689990
4) https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/6940487/
5) https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/9701158/
6) https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/22536764/
7) https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/366919/
8) https://www.nature.com/articles/35016151
9) https://edoc.rki.de/handle/176904/1478