In diesem Beitrag erläutert Dennis Riehle den Zusammenhang zwischen einer Diabetes­erkrankung (bezogen auf Typ-2-Diabetes) und der Psyche. Dabei geht der ausgebildete psychologische Berater auf die Gründe für das erhöhtes Depressionsrisiko ein und gibt Tipps zum Umgang mit psychischen Problemen.
Bild Dennis Riehle

Nicht selten höre ich aus meinem Umfeld: „Na ja, Diabetes ist ja heute keine große Sache mehr, das lässt sich doch alles medikamentös einstellen!“. Glücklicherweise können wir sagen, dass diese Aussage einerseits wahr ist, weil die Forschung in den letzten Jahrzehnten massive Fortschritte erzielt und die Behandlung des Diabetes deutlich erleichtert hat. Gleichsam ist die Festhaltung aber überaus trügerisch, kaschiert sie doch die weiterhin bestehenden, enormen Konsequenzen für den Betroffenen, die für Außen­stehende kaum einsehbar sind. Immerhin vergessen viele Menschen: Die Zuckerkrankheit ist unberechenbar und lässt sich kaum von einem auf den anderen Tag planen. Wer sich in allzu großer Sicherheit wiegt, dass eine konstante Insulinverabreichung Überzuckerungen vermeiden möge, wird sich in der Praxis wundern: Eine heute funktionierende Medikation kann schon morgen wieder unzureichend sein. Und auch ein Zuckerwert hat nur temporäre Aussagekraft.

Angst –  Grundlage für seelische Dysbalance

Unsicherheit ist ein Grund dafür, weshalb Diabeteskranke einem erhöhten Risiko ausgesetzt sind, psychisch zu erkranken. Der Mensch ist schon aus anthropologischer Sicht darauf ausgerichtet, in Verlässlichkeit zu leben. Andernfalls gerät er in Angst – die perfekte Grundlage für das Aufkeimen einer seelischen Dysbalance. Ich erkenne es an mir selbst: Auch wenn ich bereits weit vor meiner Zuckerkrankheit an mehreren psychischen Störungen litt, so bedeutete die Diagnose des Diabetes einen zusätzlichen Stressor, der mich nach langer psychischer Stabilität aus dem Gleichgewicht brachte. Es war vor allem die Sorge vor einer wachsenden Überforderung durch eine chronische Belastung, die schlagartig einer permanenten Aufmerksamkeit bedurfte. Denn die Gewissheit, dass extreme Hyper- oder Hypoglykämien im schlimmsten Falle im Delirium enden können, sensibilisierte nicht nur mich. Betroffene von Diabetes schildern übereinstimmend: Die Furcht begleitet den Erkrankten, einer Behinderung ausgeliefert zu sein, deren Verlauf nicht prognostizierbar ist.

Diabetes bedeutet einen dauerhaften Lebenswandel

Es geht nicht allein darum, pedantisch auf die Tabletten­einnahme zu achten. Das müssen viele Menschen. Diabetes bedeutet einen dauerhaften Lebenswandel – und das fällt gerade deshalb schwer, weil wir alle Gewohnheitstiere sind. Umbrüche in unserem Dasein sind stets mit einem Aufwühlen unserer Seele verbunden. Plötzlich eine stringente Diät einhalten, die Bewegung deutlich zu erhöhen und mehrmals täglich Zuckerwerte zu bestimmen, sie interpretieren und adäquat reagieren müssen – beispielsweise durch die Verabreichung der angemessenen Insulinmenge: All das nehmen viele Betroffene als einen großen Berg an Veränderungen wahr, der beispielsweise auch als bestimmendes Bild bei einer Depressionserkrankung vorherrscht. Der Prozess, sich in Grenzen einzufinden, die das Leben uns als Tatsache setzt, stellt keine Alltagsaufgabe dar, die wir aus unserer Routine kennen. Viel eher bedarf es dafür einer Anpassung, der sich nicht wenige Menschen unzureichend gewachsen sehen. Die Ursache für psychische Probleme bei einer Diabetes-Erkrankung sind somit exogener Natur, das heißt, sie rühren aus dem Umstand der Hilflosigkeit gegenüber den äußeren Einflüssen, für deren Auswirkungen wir uns Bewältigungs­strategien aneignen und sie wohl auch nicht selten lebenslang aktuell halten müssen.

Psychiatrische Störung beeinflusst das Risiko, an einem Diabetes zu erkranken

Ein unmittelbarer physiologischer Zusammenhang zwischen einer Zuckerkrankheit und seelischen Erkrankungen besteht insofern nicht, auch wenn sich viele Mythen und Spekulationen um die endokrinen Korrelationen zwischen Diabetes und psychischen Leiden ranken. Denn obwohl seelische Krankheiten in aller Regel auch eine biochemische Komponente haben, darf der Hirnstoff­wechsel nicht uneingeschränkt mit dem Körper­metabolismus gleichgesetzt werden. Nachgewiesen scheint deshalb: Eine psychiatrische Störung beeinflusst das Risiko, an einem Diabetes zu erkranken, offenbar kaum. Dagegen können seelische Leiden die Wahrscheinlichkeit erhöhen, von der Zuckerkrankheit heimgesucht zu werden, wenn bereits in der Kranken­geschichte eine grundlegende Stoffwechsel­störung wie Adipositas, Hyperlipidämie oder Bluthochdruck vorliegt.1

Behandlung seelischer Krankheiten sind komplex und langwierig

Deshalb scheint es notwendiger denn je, dass Diabetesbetroffene nicht nur ihren Zuckerspiegel im Blick behalten, sondern sich auch um ihre Seele kümmern. Wenngleich die Erkrankung mit keinem speziellen psychischen Störungsbild assoziiert ist, sind prinzipiell alle affektiven, neurotischen, somatoformen und Belastungs­krankheiten als Folge oder Begleiterscheinung eines Diabetes denkbar. Umso wichtiger ist es, dass Betroffene sich genau beobachten – und auch Hinweise auf mögliche Verhaltens­änderungen durch ihre Angehörigen ernstnehmen. Typische Symptome wie ein sozialer Rückzug, ein negativiertes Stimmungsbild, Antriebslosigkeit, Ängstlichkeit, Panikreaktionen oder unerklärliche Körpersymptome wie Schmerzen können ein Anzeichen für ein aufkommendes psychisches Problem sein. Die Abklärung solcher Indizien sollte im Rahmen der psycho­somatischen Grundversorgung durch den Hausarzt erfolgen, je früher, umso besser. Denn gerade im chronifizierten Zustand ist die Behandlung seelischer Krankheiten komplex, schwierig und langwierig – besonders dann, wenn sie mit einer Grunderkrankung wie dem Diabetes auftreten.

Psychische Störungen sind keinerlei Grund für Scham

Mindestens jeder vierte Bundesbürger erkrankt in seinem Leben an solch einer Problematik. Das gesellschaftliche Stigma, das noch immer mit ihr verbunden ist, sollte niemanden davon abhalten, sich bei Bedarf in eine Psychotherapie zu begeben, eine Beratung in Anspruch zu nehmen oder eine Selbsthilfe­gruppe aufzusuchen. Gerade verhaltens­therapeutische Maßnahmen versprechen bei raschem Einleiten der Behandlung recht große Erfolgsaussichten – und haben den positiven Nebeneffekt, nicht nur zu mehr seelischem Gleichgewicht beitragen zu können, sondern gleichsam praktische und nützliche Tipps für die Handhabung und Integrierung der Zuckerkrankheit in den Tagesablauf zu liefern. Mittlerweile gibt es vielerorts auf die Betreuung von Diabetes­patienten geschulte Psychotherapeuten, welche den Fokus auf die kognitive Relativierung der scheinbar unüberbrückbaren Hürden im Kopf des Betroffenen lenken. Das von vielen Patienten gefürchtete „Wühlen in der Vergangenheit“ ist dabei meist nicht nötig. Stattdessen richtet sich das Augenmerk auf die Wieder­herstellung eines sinnstiftenden Wohlbefindens und einer gesunden Betrachtung der Zuckerkrankheit als händelbaren Begleiter.

Dennis Riehle, privates Foto am Arbeitsplatz

Autor: Dennis Riehle | Psychosozialer Berater | Ernährungsberater | Sozialrecht (zertifiziert) 

Er ist seit 2014 an Diabetes mellitus Typ 2 erkrankt und leidet im 16. Jahr der Erkrankung unter depressiven Episoden. Dennis Riehle engagiert sich ehrenamtlich in vielen Vereinen.

Beitrag vom 11.10.2021; letzte Aktualisierung am 11.10.2021

Quellen (letzter Abruf Oktober 2021): 
1) Schmitz, N. et al.: Depression and risk of type 2 diabetes: the potential role of metabolic factors. In: Molecular Psychiatry, 2016, advance online publication 23 February 2016; doi: 10.1038/mp.2016.7 zit. n. Lungeninformationsdienst (2016): Prävention – Zusammenspiel von Psyche und Stoffwechsel.  https://www.lungeninformationsdienst.de/aktuelles/news/alle-news-imueberblick/aktuelles/article/zusammenspiel-von-psyche-und-stoffwechsel//index.html, 22.09.2021